So schön kann Winter sein. Herausragend ist der frei stehende Lusengipfel zwischen Bayerwald und Böhmerwald. Fast ein halbes Jahr liegt Schnee. Die jährliche Vegetationsperiode beträgt 60-70 Tage, hier hat sich ein eigenständiger Lebensraum entwickelt, der an das raue Klima angepasst ist. Zwischen Granitblöcken, die seit der Eiszeit herumliegen, stehen windzerzauste Bergfichten. Im Sommer wachsen dazwischen arktische Pflanzen. In diesem kargen Lebensraum fühlen sich Ringdrossel und Dreizehnspecht, die beide aus der Taiga stammen, am wohlsten.
Sturmereignisse und Käferinvasionen prägen und verändern den Wald rund um den 1373 Meter hohen Lusen. Wolken brachten früher schwefelhaltige Luftschadstoffe aus entfernten Gegenden mit und die heutige Klimaerwärmung verändert das Waldbild der Zukunft. Davon ist im Winter nichts zu sehen. Die mit Schnee und Eiskristallen überzogenen Bäumgestalten lieferten mir die ersehnten, romantisch angehauchten Fotomotive.
Vom Baumwipfelpfad aus sind die Baumkronen zum Greifen nahe. Die stark verschneiten Äste hängen tief hinunter. Es sieht aus, als ob sich die vom Neuschnee gebeugten Baumwipfel verneigen…
Nach einigen Windungen des Baumwipfelpfad sehe ich den hohen Baumturm weit über die höchsten Baumkronen ragen. Ich bin beigeistert von der Eleganz dieses Gebäudes. Es lenkt mich zuerst ab von den Hauptdarstellern, der kleinen Baumgruppe im Innern. Eine 44 Meter hohe Tanne steht in der Mitte, daneben sind auch etwas kleinere Fichten, Buchen und andere Baumarten gruppiert.
Schautafeln weisen darauf hin, dass auf jeder Etage des Baumes unterschiedliche Baumbewohner leben. Aus der Sicht der Kleintiere ist die Tanne im Baumturm so groß wie ein Wolkenkratzer für uns Menschen.

Tiefblick in den Wurzelbereich
Der Wurzelbereich ist der Keller des Hochhauses. Er gliedert sich in unterschiedliche Tiefen. Die Tanne ist ein Tiefwurzler: Ihre Wurzeln reichen mehr als 6 Meter in den Boden. Die Fichte ist ein Flachwurzler mit einem großen, flachen Wurzelteller. Der Fichtenwald in Monokultur ist deshalb anfällig bei Sturm und Orkan. Unterschiedliche Baumarten in Mischwäldern stützen sich gegenseitig und geben Stabilität.
Der dunkle, feuchte Wurzelraum ist ein Kosmos für sich. Er ist noch weitgehend unerforscht. Man hat herausgefunden: Bäume leben in Symbiose mit Pilzen. Unzählige Pilzfäden, Hyphen, durchziehen die Wurzelzone mit ihrem Myzel, einem feinen Wurzelgeflecht. Mikroben, Bakterien, Würmer und Käfer leben in der Wurzelzone des Baumes. All diese Kleinstlebewesen sind sehr empfindlich gegenüber Schadstoffen, die über Luft und Regen in den Boden gelangen. Größere Bewohner des Kellers sind Fuchs und Dachs. Auch der kleine Zaunkönig bevorzugt den Bodenbereich, weil er dort seine Nahrung findet.
Totholz ist nicht tot – es lebt!
Totholz fördert die Bio-Diversität, die Artenvielfalt des Waldes. Kleinlebewesen und Pilze leben in den Totholzstämmen. Sie zersetzen in einigen Jahren das Holz. Bald keimen junge Bäume aus dem Totholz.
Viele seltene Arten von Pilzen, Insekten und anderen Lebewesen sind auf das Totholz angewiesen. Deshalb bleibt Totholz in einem Nationalpark immer am Boden liegen. Im Nationalpark sind viele bereits verloren geglaubte Arten wieder zurück gekommen.
Wir steigen einige Windungen des spiralförmigen Weges nach oben in die mittleren Stockwerke. Auf der silbergrau schimmernden Borke der großen Tanne leben Spechte, Kleiber und Baumläufer. Sie sind allesamt Spezialisten.
Der Dreizehenspecht braucht stehendes, totes Holz. Wenn er auf Nahrungssuche nach Käfern und Larven ist, hämmert er, mit seinem spitzen Schnabel Höhlen in stehende Totholzstämme. Darin nistet der selten gewordene Sperlingskauz, sowie andere Höhlenbrüter. Gäbe es die Spechte nicht in so großer Zahl, dann hätten die Höhlenbrüter keine Wohnung. Der wieder eingebürgerte Habichtskauz braucht Baumstümpfe oder ähnliches um seine Jungen aufzuziehen.
Einige Spiralwindungen höher im Baumwipfelpfad erreichen wir das oberste Stockwerk. Es ist Hochwinter, der Baum ist mit Schnee und Eis dicht verklebt. Hier ist der Lebensraum von Baummarder und Eichhörnchen.
Der Kronenbereich einer Fichte ist der extreme Lebensraum des karminroten Fichtenkreuzschnabels. Nur er allein kann als Nahrungsspezialist mit seinem gekreuzten Schnabel an die nahrhaften Fichtensamen kommen. Sie ermöglichen ihm hier das Überleben im Winter. Als einziger Singvogel zieht er seine Jungen mitten im extrem kalten Hochwinter auf.
Deutlich zu erkennen ist die „Storchennestkrone“, die artentypische Altersform der Tanne. Auf den Ästen sehe ich die senkrecht nach oben stehende, leere Zapfenspindeln. Nach der Reife zerfällt der Zapfen am Baum, die Zapfenspindel bleibt stehen. Die Zapfenschuppen fallen geradewegs nach unten. Die Tannensamen mit ihrem Windflügel segeln mit dem Wind weit weg, um sich an anderer Stelle anzusiedeln.
Faszinierende Rundsicht vom Baumturm
Wir gehen noch die letzten paar Treppenstufen höher und erreichen die Dachterrasse des Baumturms. Eisig pfeift uns der böhmische Wind um die Ohren. Die 15 Grad minus erscheinen mir noch um einige Grade Celsius kälter.
Herrliche Aussichten von der Dachterrasse des Baumwipfelpfads: Wir stehen jetzt 44 Meter über Grund, insgesamt 844 Meter über dem Meer. Der Waldführer Heinrich Vierlinger erklärt mir den faszinierenden Rundum-Panoramablick.
Der Blick nach Norden, reicht von der Naturzone mit dem Bergmischwald des Rachel, entlang des Kammbereichs, der die Grenze zur Tschechei markiert, bis hin zum Lusen. Der Gipfel des Lusen ist 1373 Metern hoch und einzigartig. Seine Gipfelregion besteht aus einem sog. „Steinblockmeer“. Die hier typischen Granitsteine sind ein geschütztes „Geotop“. Sie liegen am Lusengipfel in riesigen Blöcken herum und machen dem Wanderer das Gehen schwer. Der Lusengipfel ist ständigem Wind und Stürmen ausgesetzt. Bizarr ragen die letzen Fichten in den Himmel. Wenn es viel Neuschnee hat, verwandeln sich diese letzten Bäume in Eisskulpturen.
Wir überblicken von der Dachterrasse des Baumturms, die herrlich weiß überzuckerte Bergmischwaldfläche des Nationalpark Bayerischer Wald. Hinter dem Grenzkamm, im Norden, befindet sich auf tschechischer Seite, der neue Nationalpark “Sumava”. Er ist 680 Quadratkilometer groß. Zusammen mit dem Nationalpark Bayerischer Wald, sind es 900 Quadratkilometer über dem bayrisch-böhmischen Grenzkamm. Somit steht das größte zusammenhängende Waldgebiet Europas unter strengen Schutz.
Im Süden sieht man sogar die 300 Kilometer entfernten Alpen. Bei Föhn erkennt man den Großglockner, den Watzmann bei Berchtesgaden und das Dachsteinmassiv.
Kulturlandschaft umrahmt den Nationalpark Bayerischer Wald.
von Osten über Süden bis nach Westen sieht man die Kulturlandschaft mit 600 – 700 Jahre alten Dörfern. Sie liegen malerisch hingestreut, zwischen einem Mosaik aus Wiesen, Wäldern und Auen. Das Auge kann sich kaum satt sehen an dieser vielfältigen Kulturlandschaft.
Heinrich Vierlinger zeigt mir in Blickrichtung Osten noch das Wolfsteinerland, mit der dominierenden Ortschaft Kreuzberg. Kreuzberg ist ein alter St.-Anna-Wallfahrstort und ehemaliger Mauth- und Zollort am “Goldenen Steig”. Dies war eine alte Handelsstraße nach Böhmen. Auffallend davor sind die schmalen Streifenfluren. Sie markierten die ehemaligen Besitzverhältnisse. Landesherr war früher in dieser Region, der Fürstbischof von Passau. Südlich und südwestlich auf der Höhe, liegt das alte Grafenauer Land, mit dem ehemaligen Klosterort St. Oswald. Im Westen geht der Blick in Richtung “Oberer Wald”. In diesem Landstrich hatte der Herzog, ab 1627 Kurfürst von Bayern, das Sagen. Die durchziehenden Handelswege nach Böhmen, wurden als “Goldene Steige”, im Bereich des ehemaligen Fürstbistums Passau bezeichnet. Über das Grafenauer Land führte damals ebenfalls ein Steig, dieser hieß: “Gulden Straß”. Heute wurde der ehemalige “Goldene Steig” in eine sehr attraktive Wanderroute für Touristen umfunktioniert. Er hat somit wieder eine neue, wichtige Bedeutung für diese Region bekommen.
Die vor uns sichtbaren Rodungsflächen gehen zurück auf ehemalige Klostergründungen oder auf die Blütezeit der Glashüttenwirtschaft des Bayerischen Waldes. Vor unseren Füßen sehen wir noch das Donautal und den kleinen Ort Neuschönau.
Der Nationalpark Bayerischer Wald – ein Rückblick
Der Baumwipfelpfad wurde im September 2009, am Nationalparkzentrum Lusen bei Neuschönau eröffnet. Harmonisch fügt sich der Holzbau in die Natur ein. Er führt den Besucher nahe an die Natur heran. Er ermöglicht ein außergewöhnliches Naturerlebnis und völlig neue Perspektiven auf den Wald. Der Besucher erhält einen ersten Eindruck und viele Informationen über den Nationalpark Bayerischer Wald. Bauherr und Betreiber ist die Erlebnis-Akademie in Bad Kötzting. Der Weg windet sich behutsam auf einer Länge von 1300 Metern durch den Wald. Gestützt wird er von schlanken Douglasienstämmen. Mit flacher Steigung führt er von 8 bis zu 25 Meter hoch, Der Baumturm ist 44 Meter hoch. Hautnah erlebt man also Fichten, Tannen und Buchen, die hier im Nationalpark Bayerischer Wald bis zu 65 Meter hoch werden können.
3,2 Millionen Euro hat der Bau gekostet. Gigantische Lärchenholzleimbinder tragen den Weg, der sich spiralförmig um eine Baumgruppe windet. Ganz oben befindet sich die Aussichtsplattform, die barrierefrei erreichbar ist und einen weiten Rundblick, in den Nationalpark Bayerischer Wald und die angrenzende Kulturlandschaft Niederbayerns erlaubt. Das Gebäude wirkt auf mich wie ein großes Ei oder wie die Reichstagskuppel in Berlin. Architekt Josef Stöger aus Schönberg wurde dafür mit vielen Architekturpreisen ausgezeichnet.
Baumwipfelpfade als Naturinszenierung und Bildungsauftrag
Sicher, Baumwipfelpfade sind eine Inszenierung. Sie haben eine wichtige Funktion: Sie lenken den Besucherstrom und erfüllen einen wichtigen Bildungsauftrag: Wer den Baumwipfelpfad besucht, ist begeistert von einmaligen Einblicken und Aussichten.
Der Baumwipfelpfad lässt uns teilnehmen an dieser bisher verborgenen Welt. Wie verzahnt sind die ökologischen Zusammenhänge? Welche natürlichen Prozesse laufen ab? Welche Tier- und Pflanzenarten gibt es? Wo wird das Gleichgewicht der Natur durch klimatische Umwelteinflüsse beeinträchtigt? Wo wird der Wald durch Schadinsekten oder Überpopulation einer Tiergattung gestört? Oder gar gefährdet? Was wird hier noch erforscht?
Dies alles wird den Besuchern auf dem Baumwipfelpfad anschaulich erklärt. Das Schöne dabei ist: man s i e h t es, wenn man links und rechts in die Baumkronen, in die Weite oder hinab auf den Waldboden blickt. Wer eine persönliche Führung wünscht, kann sich an einen Waldführer des Vereins „Pro Nationalpark“ wenden.
Als Kind stieg ich gern in den Baumwipfel der großen Winterlinde, die vor unserem Haus stand. Stundenlang hing ich allein in den höchsten Astgabeln der Baumkrone, ließ mich von den schwankenden Zweigen hin und her wiegen. Schaute den Singvögeln auf Augenhöhe zu, hörte das Summen der Bienen um mich herum, wenn die Linde in voller Blüte stand. Das machte mir damals großen Spaß. Vielleicht hatten sich auch die Erbauer des Baumwipfelpfades an Ihre Kindheit erinnert, als sie diesen Pfad durch die Baumkronen gebaut haben?
Losmarschieren!
Man atmet frische Waldluft und lernt unendlich viel dazu! Wer gut informiert wandert, schult seine Wahrnehmung. Man sieht mehr und hat mehr Genuss! Wieder einmal bewahrheitet sich das Wort von Goethe: „Man sieht nur, was man weiß!“ – Wer möchte da nicht gleich die Wanderschuhe schnüren, losmarschieren und im Nationalpark Bayerischer Wald wandern?







Mein Tipp:
Eine Runde auf dem geräumten Winterwanderweg durch das Tierfreigelände am Nationalparkzentrum Lusen gehen. Auf der fünf Kilometer langen Wanderrunde kommt der Besucher an 16 großen Gehegen und Volieren vorbei. Hier leben 36 Vogel- und Säugetierarten im naturnahen Umfeld. Sie sind artgerecht untergebracht und dürfen sich auch vor dem Besucher zurückziehen.

Wunderschöne Bilder. Die klirrende Kälte auf dem Gipfel spürt man förmlich. Bei diesen Bildern freue ich mich schon auf den nächsten Winter.
Eine Anmerkung habe ich noch. Du schreibst, dass Stürme, Käfer, Klimawandel und Luftschadstoffe den Wald verändern. Die Luftschadstoffe sind meines Wissens kein Problem mehr.
Hallo Sonja,
Bäume und Wälder im Schnee zu erleben ist ein schönes Naturerlebnis. Der Nationalpark Bayerischer Wald hat besonders im Winter einen besonderen Reiz.
Danke Dir für den Hinweis. Die Luft ist viel sauberer geworden und für die Fichtenwälder nicht mehr schädlich, seit große Industriebetriebe mit Entschwefelungsanlagen ihre Abgase reinigen müssen. Da hat sich gottseidank vieles gebessert. Ich habe das im Text etwas abgeändert. Bedenken sollte man jedoch, dass noch viele andere Schadstoffe aus Industrieanlagen und Emissionen von Fahrzeugen unsere Atemluft beeinträchtigen.
Wie das Schneekapitel in Thomas Mann’s Zauberberg!
Danke Felix für Deinen schönen Kommentar. Ich freu mich.
das sind ja traumhaft schöne Bilder !!!!
Danke Manfred. Gruß Andreas